Intensivpflegestärkungsgesetz
aus der Sicht eines Betroffenen

Nachbericht zum ersten Treffen des AK Chancengerechtigkeit
der Jusos Oberbayern

Am Mittwoch, 20.05. 2020, traf sich der neu gegründete Arbeitskreis Chancengerechtigkeit zum ersten Mal – online. Damit wir uns dem doch recht schwierigen und umfangreichen Thema des Intensivpflegestärkungsgesetzesbesser nähern konnten, luden wir einen Experten ein. Constantin Grosch, selbst Juso und SPD-Mitglied aus Hameln Pyrmont, ist aufgrund eines Gendefekts, der bewirkt, dass seine Muskelkraft immer mehr abnimmt (Muskeldystrophie) seit er 11 Jahre alt ist, im Alltag dauerhaft auf einen Rollstuhl angewiesen. Er ist Behindertenaktivist und betreibt den „Inklusions-Podcast“. Außerdem hat er die Online-Aktionsplattform der Behindertenbewegung AbilityWatch gegründet.

 

Constantin Grosch erklärte uns in einem kurzen Vortrag, um was es im Intensivpflegestärkungsgesetz eigentlich geht und was sich im Vergleich zum Ist-Zustand ändern wird. Der Gesetzesentwurf schlug letztes Jahr ziemlich hohe Wellen, da die Neuerung eine Gruppe von Menschen mit Behinderungen schlechter stellt als mit dem jetzigen Ist-Zustand. Konkret geht es um die Menschen, die auf dauerhafte intensivmedizinische Pflege (z.B.: Beatmung) angewiesen sind und in den eigenen vier Wänden oder bei ihrer Familie wohnen.

Der erste Entwurf sah eine Umkehrung der bisher geltenden Rechtslage vor: So sollte nach den ersten Plänen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) Intensivpflege vorrangig in vollstationären Pflegeeinrichtungen stattfindenund nicht mehr wie bisher zuhause. Nur „wenn die Behandlung in einer vollstationären Einrichtung nicht zumutbar“ ist, sollte intensivmedizinische Pflege auch zu Hause möglich sein.

Dies klingt für uns widersinnig, denn warum solltenMenschen mit Behinderungen eher vorrangig in Intensivpflegeeinrichtungen untergebracht werden, wenn doch nach Artikel 3 der UN-Behindertenrechtskonvention (UNBRK), die seit 2009 in Deutschland gilt,Selbstbestimmung tief verankert ist und Artikel 19 dies nochmal konkretisiert?

Hier heißt es: „Es muss gewährleistet sein, […] dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt die Möglichkeit haben, ihren Aufenthaltsort zu wählen und zu entscheiden, wo und mit wem sie leben, und nicht verpflichtet sind, in besonderen Wohnformen zu leben“.

Im darauffolgenden Absatz wird explizit hervorgehoben, dass Isolation und Absonderung von Menschen mit Behinderung vermieden werden muss. 

Dem widerspricht der erste Entwurf von Jens Spahn komplett. Hier können die Betroffenen den eigenen Aufenthaltsort nicht selbst wählen, sondern müssen hoffen, dass die Behandlung in vollstationären Intensivpflegeeinrichtungen als nicht zumutbar anerkannt wird, um wieder nach Hause zu dürfen. Das ist paradox und hat im Sommer 2019 – zurecht – für einen großen Aufschrei gesorgt. 

Daraufhin folgte eine Überarbeitung des Gesetzes, welches nun den Namen Intensivpflege- und Rehabilitationsstärkungsgesetz (kurz: IPREG) trägt. Die eben thematisierte Stelle, mit der „Zwangsunterbringung in Heimen“, wurde so verbessert, dass die Nachrangigkeit von Intensivpflege am eigenen Wohnort aufgehoben wurde. So ist das Gesetz aus der Betroffenenperspektive im Vergleich zum ersten Entwurf deutlich verbessert worden. Dennoch gibt es noch immer einige Kritikpunkte. So muss regelmäßig vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen eingeschätzt werden, ob die Sicherstellung ihrer Versorgung „durch eine geeignete Pflegefachkraft“ gegeben ist.  Aber eigentlich kann doch die betroffene Person selbst am besten entscheiden, wer für ihre*seine Pflege geeignet ist. Viele Menschen mit Behinderung organisieren sich selbst die eigene Assistenz und stellen sich ihr Assistenzteam zusammen, das aus Familienangehörigen, Ungelernten oder Pflegefachkräften bestehen kann. Durch den Gesetzesentwurf fallen die ersten beiden Gruppen weg. Durch die Festlegung, dass eine Pflegefachkraft für Menschen, die Leistungen der häuslichen Krankenpflege (z.B. Beatmung) erhalten, gesetzlich vorgeschrieben ist, ergeben sich zusätzliche Schwierigkeiten bei der Organisation des Assistenz-Teams. 


Wir sind der festen Überzeugung, dass dies nur die Betroffenen selbst entscheiden können und niemand anderes.

Außerdem kann, wenn den Begutachter*innen das Betreten der Wohnung verboten wird, eine Unterbringung in Intensivpflegeeinrichtungen angeordnet werden. Dies ist problematisch, denn die Unverletzlichkeit der Wohnung gilt auch für Menschen mit Behinderungen. Eine Verweigerung des Eindringens in die Privatsphäre darf nicht mit einer Heimeinweisung sanktioniert werden.

 

Das IPREG wird vermutlich in den kommenden Wochen im Bundestag verabschiedet.

Mit Constantin Grosch diskutierten wir, 14 Personen (Jusos und Nicht-Jusos), nach seinem kurzen Vortrag über dieses Gesetz und andere Forderungen der Inklusionspolitik. 

Wir kamen auch auf das Thema Finanzierung von Assistenz zu sprechen, wo es auch definitiv noch Handlungsbedarf gibt. Ist ein Mensch mit Behinderung auf Assistenzleistung angewiesen, so ist es ziemlich kompliziert, Assistenz zu beantragen, weil es, je nachdem, in welchem Bereich die Assistenz notwendig ist, unterschiedliche Kostenträger gibt und man die Leistungen langwierig beantragen muss. So muss man als betroffene Person auch immer begründen, warum man in der jeweiligen Situation Assistenz benötigt. Es macht einen Unterschied, ob man mit Assistent*in Bus fährt, um in die Uni zu kommen oder um ins Kino zu gelangen. Dabei geht es in beiden Situationen um das Busfahren.

Wir sind uns einig: es gibt in der Inklusionspolitik noch sehr viel Handlungsbedarf! Wir möchten den neuen Arbeitskreis nutzen, uns mit den bestehenden Herausforderungen zubeschäftigen und Anträge zu schreiben. Unser Ziel ist es nicht nur die Jusos und die SPD beim Thema Inklusionspolitik voranzubringen, sondern vor allem eine uneingeschränkte Teilhabe von Menschen mit Behinderung an der Gesellschaftund der Politik zu garantieren.


Bei Interesse könnt ihr euch gerne bei uns melden (ak-chancenge@jusos-obb.de

 

 

 

Texte zum Weiterlesen:
– Bundesministerium für Arbeit und Soziales (2011): Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen: https://www.bmas.de/DE/Service/Medien/Publikationen/a729-un-konvention.html

 

– Bundesministerium für Gesundheit (2019): Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von Rehabilitation und intensivpflegerischer  Versorgung in der gesetzlichen Krankenversicherung: https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/R/Referentenentwurf_RISG.pdf

 

– Bundesministerium für Gesundheit (2020): Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung von intensivpflegerischer Versorgung und medizinischer Rehabilitation in der gesetzlichen Krankenversicherung (IPREG), Stand 12.02.2020:

https://www.bundesgesundheitsministerium.de/fileadmin/Dateien/3_Downloads/Gesetze_und_Verordnungen/GuV/I/IPReG_Kabinett_120220.pdf

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